Sie gehen in einem Sommerwald spazieren. Das Sonnenlicht spielt zwischen dem satten Grün der Blätter und wirft gelb leuchtende Tupfen auf den Waldboden. Sie hören das Rauschen der Baumkronen und das Zwitschern der Vögel. Es ist angenehm warm. Welche Gedanken gehen Ihnen durch den Kopf? Was empfinden Sie? Sind diese subjektiven Momente der Erfahrung der Natur für Sie das Entscheidende bei einem solchen Spzaziergang? Oder vielleicht etwas eher Nüchternes, Exaktes, Objektives?
Ein Physiker, wenn er sich wirklich wissenschaftlich ausdrücken wollte, müsste streng genommen etwas Anderes in sein Notizbuch schreiben: „Die Blätter der Bäume reflektieren vom Sonnenlicht Wellenlängen im Bereich von 550 Nanometern, der Waldboden dagegen 580 Nanometer. Wenn diese Wellenlängen auf unsere Netzhaut fallen, interpretiert sie das Gehirn als Farbimpulse. Gleichzeitig sind die Trommelfelle unserer Ohren einem Schalldruckpegel von ca. 50 Dezibel ausgesetzt, während die Infrarotsensoren in den tieferen Schichten der Dermis Wellenlängen von ca. 15 Mikrometern registrieren.“
Und man sagt - alles geschieht zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Wer hat recht?
Gute Frage, aber eigentlich sollten wir die Frage anders stellen: Wer hat gewonnen? Denn das ist nicht dasselbe.
Zwischen dem, wie wir unsere Umwelt subjektiv wahrnehmen, und dem, was Naturwissenschaft erforscht, klafft eine riesige Lücke. Dabei sollte es doch Ziel der Naturwissenschaft sein, WISSEN über die NATUR zu SCHAFFEN.
Die Welt der alten Griechen war in harmonischen Proportionen von Zahlen versteckt. Alles, was weniger elegant wäre, war für sie ein No-Go. Und es lieferte exakte, wiederholbare Ergebnisse. Na ja, Plato muss offenbar gewusst haben, was eine Illusion ist.
Das Galileo-Prinzip
Seither erkennt die Naturwissenschaft nur noch das als Faktum an, was wiederholbar ist. Egal welcher Forscher ein Experiment unter vergleichbaren Bedingungen durchführt – er muss vergleichbare Ergebnisse erhalten. Sonst gilt es als nicht wissenschaftlich. Man nennt es replizierbar. Wenn Forscher A während des Experiments die zeitlose Schönheit seiner Petrischale bewundert und dabei Mozart hört, Forscher B dagegen an seine Schwiegermutter denkt, und das zu den Songs von Lady Gaga, so sind diese Parameter für das Experiment irrelevant. Versuchen Sie mal, Ihrer Schwiegermutter klarzumachen, sie sei irrelevant...Galileo Galilei fasste dies im 17. Jahrhundert zu einem kategorischen Imperativ zusammen:
”Mach dir im Moment keine Sorgen um das Bewusstsein, konzentriere dich einfach auf das, was du in der Mathematik erfassen kannst."
Schade, dass die Kirche ihn diesen Satz nicht auch abschwören ließ. An dem Tag, als die Wissenschaft dieses Galileische Prinzip verinnerlichte (was sie bis heute tut), wurde unserem menschlichen Bewusstsein, unseren Gefühlen und Gedanken die Aufenthaltserlaubnis im Universum entzogen. Natürlich replizierbar. Und gerade der Zwang zur Replikation erweist sich als Falle für die Wissenschaft. Aber das kriegen wir später.
Der Erfolg von Galilei, Kepler und Newton erlebte sein Apogäum in der Dampfmaschine, der Mondrakete und dem Smartphone. Das ist bequem, hat uns aber Scheuklappen aufgesetzt. Wir haben zwar Technologie, aber die Natur verstehen wir weiter nicht.
Die Naturwissenschaft weiß bis heute über die Beherrschung wirklicher Naturvorgänge ziemlich wenig. Die Grünen hören jetzt bitte mal weg – Atomkraftwerke sind sicherer als Vulkane. Über die ersteren gibt es mehr Wissen, mehr Vorschriften, mehr Kontrollmechanismen. Gegen Vulkanausbrüche, Erdbeben oder Flutkatastrophen haben wir allenfalls Statistiken. Und unsere lieben Freunde, die Asteroiden, entdeckt die NASA meist erst einen Tag vor dem Near Flyby.
Wer hat versagt?
Die Mathematik? Oder das Replikationsprinzip? Vermutlich beide. Also – wieso halten kluge Naturwissenschaftler so standhaft an ihnen fest, anstatt nach neuen Wegen zu suchen? Aus zwei Gründen: Der erste heißt Money, money. Und der zweite – weil sie nicht anders können. Unsere Welt steht an einem Punkt der Geschichte, wo Versagen keine Option ist.Der Mathematiker Kurt Gödel hat in den Dreißiger Jahren bewiesen, dass keine wissenschaftliche Theorie existieren kann, ohne auf unbeweisbare Grundprinzipien zurückzugreifen. Diese Grundprinzipien sind also im Grunde willkürlich, aber ohne sie - keine Theorie.
Und hier liegt unser Schwachpunkt: Früher hatten wir „die Götter“, danach „Mathematisierbarkeit und Wiederholbarkeit“. So landeten wir in der „Box“. Heute brauchen wir etwas Neues und Besseres. Und das Schönste ist - es muss nicht einmal beweisbar sein. Fragen Sie Herrn Gödel!
Jung, ambitioniert, dynamisch
In einem Physiklabor zwischen vielen Petrischalen, Glaskolben und allerlei technischem Gerät sind Mathematik und Wiederholbarkeit hervorragend geeignet.
Naturphänomene haben eine so große Diversität und hängen von so vielen unabhängigen Variablen ab, dass die alte Mathematik an ihre Grenzen stößt. Eine neue Mathematik ist schon seit dem 19. Jahrhundert im Anmarsch - als Prototyp. Um in großem Stil eingesetzt zu werden, musste sie auf die Entwicklung des Computers warten. Sie heißt Chaostheorie, denn in Wahrheit ist die Natur chaotisch, mit dem Ziel, aus sich heraus Stabilität zu erschaffen. Das geht nicht mehr wie früher über statische Formeln, sondern über dynamische Prozesse.
Kollegen anderer Wissenschaftsdisziplinen haben uns wunderbar den filigranen Aufbau unserer Lunge erklärt, die zeitlose Schönheit eines Schneckenhauses und wie die Pflanzen miteinander kommunizieren. Alles Resultate dynamischer Chaosprozesse. Das Zauberwort heißt Rückkopplung.Optische RückkopplungDas ist cool, aber nicht das, wonach es aussieht. Wir alle kennen Rückkopplungen von der Freisprechanlage des Telefons. Wenn wir ins Telefon sprechen, und der Empfänger sitzt im gleichen Raum, mit eingeschaltetem Lautsprecher, dann heult es laut. Eine Rückkopplung bedeutet, dass der Sender einer Information das Gesendete selbst wieder empfängt und dann erneut sendet usw. Kurz gesagt – Rückkopplungen entstehen, wenn etwas sich selbst beobachtet. So als würde man zwischen zwei Spiegeln stehen.
In der alten Physik ist der Mensch nur ein außenstehender Beobachter der Natur, so als würde er sie durch eine Glasscheibe betrachten. Diese Vorstellung lässt sich nicht mehr aufrechterhalten.Aha! In diesem Moment kann der Mensch offenbar nicht länger der unbeteiligte Zaungast seiner Experimente sein. Das Bewusstsein, von Galilei so fein säuberlich beiseite gelegt, lässt sich nicht länger aussperren. Der Beobachter wird Teil des Experiments und beeinflusst sein Resultat. Diese Erkenntnis geht auf Albert Einstein zurück (was ihm selbst überhaupt nicht schmeckte.)
Einsteins DoppelspaltversuchAllerhand, sich mit Einstein zu messen! Lässt man Lichtwellen durch zwei nebeneinanderliegende Spalte treten, so teilen sich die Wellen auf und setzen sich hinter dem Doppelspalt wieder zu einem sogenannten Interferenzmuster zusammen. Sie lassen sich sozusagen scheiden, um danach in die gemeinsame Wohnung zurückzukehren. Dieses Experiment ist bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert bekannt. Einsteins Beitrag war, das Experiment mit Materiestrahlung, etwa Elektronenstrahlen, zu wiederholen. Man wusste inzwischen, dass auch Materieteilchen Wellenaspekte haben. Daher kann sich ein einzelnes Elektron „aufteilen“ und teilweise durch den einen und den anderen Spalt treten. Ein zum Licht ähnliches Interferenzmuster auf dem Schirm bewies so die Wellennatur der Materie. Allerdings funktioniert das nur, wenn dabei niemand zuguckt.
Ups! In Anwesenheit eines Beobachters tritt jedes Elektron schön brav als Teilchen durch genau einen Spalt, so dass sich auf dem Schirm anstelle des Wellenmusters zwei „Häufchen“ bilden. Schämen sie sich, nur weil jemand zuguckt?
Das Beobachterprinzip
Durch Einsteins Doppelspaltversuch wurde bewiesen, dass der Beobachter eines Experiments dessen Ausgang beeinflusst. Das Bewusstsein erweist sich als ein Faktor, der sich aus der existierenden alten Physik heraus nicht erklären lässt. Fakt ist aber, dass dieses ungreifbare, unmessbare und nicht kategorisierbare Bewusstsein mit physikalischen Objekten, z. B. Elektronen, wechselwirkt. Wäre das nicht ein Kandidat für ein unbeweisbares Grundprinzip der Physik, das nicht mehr hinterfragt wird – im Sinne Gödels? Zumindest dann, wenn man es mit der mathematischen Teildisziplin der Chaostheorie verbindet.
Könnte es sein, dass alles, was wir über die Physik wissen, nur gültig ist, sobald es von einem Bewusstsein beobachtet wird? Im Grunde eine sophistische Frage, denn was sich in einem unbeobachteten Bereich des Universums, in Abwesenheit jeglichen Bewusstseins, abspielt, kann ja niemand wissen.
Aber man kann die Frage auch umkehren. Die meisten Wissenschaftler sind überzeugt, dass unsere Physik überall Gültigkeit hat, auch in den Tiefen des Weltraums. Das müsste dann aber auch implizieren, dass das Universum überall von Bewusstsein durchdrungen ist, denn die Abwesenheit von Bewusstsein irgendwo da draußen müsste ja physikalische Prozesse anders ablaufen lassen.
Und wie sieht es mit der Wiederholbarkeit aus? Wenn der Beobachter zum Bestandteil eines Experiments wird, kann man nicht mehr automatisch davon ausgehen, dass zwei unterschiedliche Beobachter das Gleiche sehen, selbst wenn sie das Gleiche tun. Aber das Replikationsprinzip hat noch ganz andere Schwächen.
In der Replikationsfalle
Beginnen wir mit dem Offensichtlichen. Wenn wir über simple Laborversuche hinausgehen und wirklich die Natur beobachten – wie können wir da sicher sein, dass sich alles, was dort geschieht, zwangsläufig wiederholen muss? Genau das ist einer der Knackpunkte. Eine Supernova ereignet sich alle paar hundert Jahre, der Ausbruch eines bestimmten Vulkans noch seltener. Sind diese Phänomene also unwissenschaftlich? Niemand behauptet das, aber es ist ein Grund, weshalb wir solche Vorgänge noch nicht mathematisch vorhersagen können.
Wenn Wissenschaftler zu Gaunern werden
Aber das Problem sitzt noch viel tiefer, speziell in den Wissenschaften, die bei ihren Aussagen hauptsächlich auf Statistiken angewiesen sind, weil sie Vorgänge untersuchen, für die es keine mathematischen Grundlagen gibt wie bei der Physik. Etwa in der Psychologie oder in den Sozialwissenschaften. Clare Wilson, Wissenschaftsredakteurin beim Londoner New Scientist, machte kürzlich ein erschreckendes Geständnis: „Einige der Artikel, die im New Scientist erschienen sind, einschließlich derer, die ich geschrieben habe, sind falsch. Nicht, weil wir Sie absichtlich in die Irre geführt haben. Nein, unsere Berichte basierten auf Forschungsergebnissen angesehener Wissenschaftler an Top-Universitäten, die in Peer-Review-Zeitschriften1 veröffentlicht wurden. Doch obwohl alle normalen Glaubwürdigkeitsstandards erfüllt wurden, erwiesen sich einige Ergebnisse als falsch.“
Clare Wilson trifft daran keine Schuld. Sie ist nur, genau wie alle anderen, auf unseriös angefertigte Publikationen hereingefallen. Der Zwang zur regelmäßigen wissenschaftlichen Publikation, möglichst unter einem spektakulären Titel, verführt viele Wissenschaftler zur „Rosinenpickerei“. Das heißt, sie nehmen in ihre Statistiken bevorzugt diejenigen Zahlen auf, die ihre Vermutung bestätigen, und erklären andere zu Messfehlern. Natürlich gibt es in jeder Untersuchung fehlerhafte Daten, nur wo beginnen die, und welche Daten sind korrekt, widerlegen allerdings die Hypothese des Forschers? Das ist am Ende eine Gewissensentscheidung des Wissenschaftlers. Ich würde es einen Beobachtereffekt nennen, und zwar einen, der erheblichen Einfluss auf das Resultat hat. Untersuchungen von Pharma- und Biotech-Unternehmen ergaben, dass im Pharmabereich etwa zwei Drittel aller Studien fehlerhaft sind, im Biotech-Bereich sogar 90%.
Schon Einstein wusste: „Die Theorie bestimmt, was wir messen werden.“ Ich würde es etwas weniger freundlich als er ausdrücken: „Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.“
Vielleicht könnte eine neue Naturwissenschaft, die das Bewusstsein einbezieht, hier Abhilfe schaffen. Dann könnten sich bestimmte Faktoren, die ein Ergebnis beeinflussen (bis hin zur gezielten Datenmanipulation), nicht mehr dahinter verstecken, dass der Beobachter eines Experiments ja „außen vor“ ist. Vielleicht wäre es übertrieben, den Autor einer Studie zu zwingen, genauere Informationen über seine Stimmungen und Bewusstseinszustände während der Experimente offenzulegen („Hatte drei Whisky getrunken, weil ich Streit mit meiner Frau hatte“). Er sollte aber veranlasst werden, genau zu dokumentieren, welche Daten er aussortiert hat (und warum).
Die derzeit noch übliche Wiederholung nach „Schema F“ ist dagegen geeignet, im Extremfall absoluten Humbug wissenschaftlich zu sanktionieren.
„Den Blick aus dem Nichts ins Nichts hatte noch keiner“
Die Crux ist es, all diese interessanten Modellvorstellungen in ein wissenschaftliches Korsett zu fügen. “A view from nowhere is not something anyone’s ever had.”2,sagt Adam Frank von der University of Rochester, New York. Ein Satz, der so viele Verneinungen enthält, dass man ihn sich auf der Zunge zergehen lassen muss.
Problematisch ist, dass wir noch viel zu wenig darüber wissen, was Bewusstsein eigentlich ist. Einigen wir uns darauf, was der theoretische Physiker Lee Smolin vom Perimeter Institute for Theoretical Physics in Waterloo, Kanada, sagte: “Es gibt keine Frage in der Wissenschaft, die schwieriger und verwirrender wäre.“
Philip Goff, Philosoph von der Durham University in England, fordert, sogenannte „Qualia“3 wie z. B. die rote Färbung des Sonnenuntergangs oder den sauren Geschmack einer Zitrone als „neue Daten“ in die Wissenschaft einzubeziehen. „Das komplettiert die Physik, anstatt ihr zu widersprechen.“
Die Neurowissenschaft...
...kann bis heute nicht erklären, wie und vor allem warum Gehirnaktivitäten bewusste Erfahrungen schaffen. Oder, um den „Man in Black“ aus Akte-X mal wieder zu zitieren: „Ihre Wissenschaftler müssen erst verstehen, wie neuronale Netzwerke Bewusstsein schaffen. Und da wagen Sie es, schamlos zu behaupten, dass zu sehen zu glauben bedeutet.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Oder vielleicht doch? „Wir hätten schon eine neue Physik, wenn wir sie nur erst hätten.“
Brauchen Sie jetzt einen Stimmungsaufheller? Dann empfehle ich Ihnen einen Waldspaziergang – ohne Notizbuch und Oszilloskop.
Dieser Artikel erschien zuerst in Matrix3000 Band 124.
Quellen:
Thomas Lewton: A new place for consciousness in our understanding of the universe. New Scientist, 30. 3. 2022.
Clare Wilson: The replication crisis has spread through science – can it be fixed? New Scientist, 6. 4. 2022.
When the scientific publishing industry goes rogue. New Scientist, 1. 6. 2022.
Franz Bludorf: Leben in der Matrix. Wie neuronale Netzwerke Realität erschaffen. Matrix3000 Band 116, Herbst 2020.